Schloßkirche Wittenberg


Abendliturgie zum ThesenWechsel

Jede neue KlangThese wird am zweiten Sonntag jedes Monats
immer um 17 Uhr mit einer Abendliturgie und einer künstlerischen
Intervention eingeführt, die die neue KlangThesen-Komposition, den
zugrundeliegenden Text und das Thema aufnehmen und spiegeln.


13. Juni 2010


GNADE

Dr. Thorsten Moos Meditation zum ThesenWechsel


So viele Wörter in diesen Mauern. Ich stelle mir vor, ich hörte, was über Jahrhunderte in diesen Mauern gelesen, gepredigt, gebetet, geflüstert, erklärt, gerufen wurde. Die Stimmen derer, die das Evangelium lasen; all das, was hier von der Kanzel erklang, mahnend oder ermutigend, im Brustton der Überzeugung oder behaucht vom Zweifel. Ich stelle mir vor, ich hörte das vielfache „Ja“ der Hochzeitspaare. Ich hörte die Befehle der Soldaten, die sich im Kriege hier verschanzt hatten. Ich hörte die Rufe der Wittenberger, die versuchten, ihre brennende Kirche zu löschen. Ich hörte die gemurmelten Gebete, all die Bitten, aller Dank, die hier vor Gott gebracht wurden. So viele Wörter in diesen Mauern; verklungen ins Unhörbare, und doch: keines ist dahingefallen.

Der Künstler Michael Muschner hat den Mauern der Schlosskirche einige der Wörter abgetrotzt, die im Laufe der Jahrhunderte hier erklungen sind. Worte der Bibel, Worte Martin Luthers, gesprochen von denen, die hier auch sonst sprechen, künstlerisch geformt zu Klangthesen. Zwölf dieser Klangthesen im Laufe eines Jahres, im monatlichen Wechsel. Heute verabschieden wir uns von der Klangthese, die in den letzten Wochen diesen Raum erfüllt hat, und wir hören zum ersten Mal die neue These, die ab jetzt hier wohnen wird.

Herzlich willkommen zum KlangThesen-Wechsel.

Wir hören nun noch einmal für kurze Zeit auf die alte These, entstanden im Dialog mit Martin Luthers 43. These gegen den Ablass:
„Man soll den Christen lehren: Dem Armen zu geben oder dem Bedürftigen zu leihen ist besser, als Ablass zu kaufen.“

Lesung 2 Kor 4,5-7:
"Denn wir predigen nicht uns selbst, sondern Jesus Christus, dass er der Herr ist, wir aber eure Knechte um Jesu willen. Denn Gott, der sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben, dass durch uns entstünde die Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi. Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, damit die überschwängliche Kraft von Gott sei und nicht von uns."

So viele Wörter in diesen Mauern; so viele Wörter draußen. Es ist wie auf dem Wittenberger Stadtfest: Wörter schwirren durcheinander, überlagern sich, überschreien sich, bis mir die Ohren klingeln. Jeden Tag höre ich viel mehr Wörter, als ich aufnehmen kann.

Der wahre Schatz der Kirche, hören wir, ist das Evangelium. Mehr Reichtum, mehr echter Glanz ist hier nicht. Der wahre Schatz, das sind: wieder Wörter. Nicht gerade ein Alleinstellungsmerkmal in einer wortgeladenen Welt. Ein Schatz in irdenen Gefäßen. Das Evangelium in Weltwörtern: ein Schatz im Acker, lehmverkrustet, erdverschmiert, die Perle vom Erdklumpen kaum zu unterscheiden.

Michael Muschner, der Komponist unserer Klangthesen, verarbeitet Wörter. Bekannte Wörter, wie sie hier gewöhnlich hallen von Mauer zu Mauer. Muschner nimmt die Wörter, trägt sie in sein Labor, bearbeitet sie dort und bringt sie schließlich wieder zurück. Allerdings erhalten wir sie nicht ganz zurück. Wir bekommen den Klang; doch der Gehalt bleibt uns versagt. Es ist, als gösse er ein Buch aus, die Druckerschwärze flösse heraus, er füllte sie ab in kleine Ampullen verschiedener Form und Größe. Was Wort war, wird neue Form, es fließt heraus aus dem Reich der Sprache. Der Schatz der Kirche, aus dem irdenen Gefäß wörtlichen Daseins umgefüllt in neue Gefäße, aus anderem Ton.

So werden Wörter zu Nicht-Wörtern, Thesen zu Nicht-Thesen. Muschner mutet uns eine Art Entziehungskur zu, eine „Sinn-Entziehungskur“. Er verweigert das, worauf Menschenherzen eigentlich gepolt sind: verstehen, begreifen, verknüpfen, sortieren, verbinden. Das gibt’s nicht, wenigstens nicht auf der ersten Ebene. Sinn-Fasten ist angesagt.

So entstehen Klangthesen, die keine fertigen Sinnpakete sind. Ich verstehe sie eher als Sinn-Gutscheine. Sie liefern keinen Sinn, sie versprechen Sinn. Sie sind Material, aus dem Sinn wieder werden kann. Klang, der neue Worte formen mag. Ampullen voller Druckerschwärze, aus der Worte neu gedruckt werden können.

Diese Sinn-Entziehungskur macht aufmerksam darauf, was in allem Hören und Verstehen geschieht. Was an mein Ohr spült, was mein Auge sieht, das ist zunächst nur Schall und Licht. Ob etwas mich erreicht, ob mir irgendwas aus den vielen Wörten zum Wort wird, mich berührt, gar ergreift und entzündet – das kommt, im besten Fall, dazu. Dann ist’s ein Gottesgeschenk, sagt Paulus, ein heller Schein in meinem Herzen, von Gott hineingegeben. Wenn ich verstehe, wirklich verstehe, dann hat mich Gottes Geist für diesen Augenblick in Beschlag genommen.

Der kostbare Sinn der Wörter ist kein Besitz; das höre ich in den Klangthesen. Was mir gestern etwas gesagt hat, muss mir heute nichts mehr bedeuten. Sinn kann mir zerfließen und zerbrechen. Aber Sinn ist versprochen; Gottes Geist mir zugesagt. Es ist verheißen: Wörter werden mir zum Wort werden, ich werde verstehen, es wird Licht werden.

Auf ein zweites noch macht des Künstlers Sinn-Entziehungskur aufmerksam. Alles Reden im Glauben bewegt sich am Rande des Unsagbaren; alles Sprechen am Rande des Schweigens. In den Klangthesen, die nichts Sagbares sagen, wird für mich das Unsagbare hörbar.

Der dänische Philosoph und Theologe Sören Kierkegaard schreibt in diesem Sinne über sein Reden im Gebet:
Als mein Gebet immer andächtiger
und innerlicher wurde,
da hatte ich immer weniger
und weniger zu sagen.
Und zuletzt wurde ich ganz still.

Auf dem Weg vom Sagbaren zum Unsagbaren hören wir nun die neue Klangthese. Unterziehen Sie sich der Sinn-Entziehungskur. Öffnen Sie die neue Ampulle, den Sinn-Gutschein; öffnen Sie sich für das Material, das aus dem Evangelium kommt und wieder zum Evangelium werden will. Hören Sie auf das Unsagbare. Nehmen Sie den Schatz in Empfang.

These 62. Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes.